Christodoulos gibt sich selbstbewusst

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#12
Carmen hatte in einem ihrer ersten Beiträge erwähnt, dass gängige Meinung ist, dass "die Kirche" "die Griechen" während der Türkenherrschaft gegen die Besatzer verteidigt bzw. es ihnen ermöglicht hat, überhaupt das "Griechentum" aufrecht zu erhalten und dass deshalb bis heute die Mehrheit der Griechen Respekt vor der Institution hat und eine Art ewige Dankesschuld abtrage.

Dazu ließe sich folgendes sagen:

Im Osmanischen Reich gab es verschiedene "millets", also Verwaltungseinheiten basierend auf der Religionszugehörigkeit. Der größte war natürlich der islamische Millet, und ein sehr bedeutender war der "Millet-i-Rom", der orthodoxe, der alle orthodoxen Christen (gemeint ist "Ostrom" also Konstantinopel) umfasste. Dem stand der Patriarch in Konstantinopel vor. Im Osmanischen Reich herrschte generell Religionsfreiheit, auch wenn die Nichtmosleme Bürger zweiter Klasse waren. Innerhalb des Millets gab es eine begrenzete Autonomie, so wurden zum Beispiel Rechtsstreitigkeiten zwischen orthodoxen Christen, sofern sie gewisse mindere Delikte betrafen, innerhalb des Millets geregelt. Die konkreten Lebensbedingungen für die orthodoxen Christen (aber auch alle anderen Untertanen des Sultans) hingen stark davon ab, wie die lokalen Potentaten herrschten, den Konstantinopel war für die meisten weit weg und ein tyrannischer Statthalter konnte den Angehörigen eines bestimmten Millets (oder allen) das Leben zur Hölle machen. Ein "gerecht" herrschender konnte dagegen für sehr gute Lebensbedingungen sorgen. Soviel zum Thema "Unterdrückung".

Interessant ist aber vor allem folgendes: Die Angehörigen des Millet-i-Rom waren keineswegs ausschließlich "Griechen", sondern auch jede Menge Albaner, Vlachi, Türken, u.v.a.. Die Religion und nicht die Ethnie bestimmte die Zugehörigkeit. Ebenso gab es Menschen, die sich als "Griechen" fühlten, aber anderen Glaubens waren. Die Zugehörigkeit zum "Griechentum" war ebenfalls durch Sitten und Gebräuche, durch Folklore und die Überlieferung von Geschichten, Sagen, Märchen etc. bestimmt. Die Kirche hatte einen gewissen Einfluss, u.a. auf die Aufrechterhaltung dieser Bräuche, aber war längst nicht der einzige Faktor in der Erhaltung einer "griechischen" Tradition. Als im späten 18. Jahrhundert die (im westlichen Ausland lebenden) ersten "griechischen" Denker daran gingen, ein griechisches Nationalbewußtsein zu begründen, fiel es ihnen sehr schwer zu bestimmen, wer den eigentlich "Grieche" sei. Die einen stellten die Orthodoxie in den Vordergrund, die anderen die Ethnie (die sehr viel schwieriger zu bestimmen war).

Was ebenfalls wichtig war: der Patriarch und die orthodoxe Amtskirche war stets ein getreuer Vasall des Sultans und bemühte sich nach Kräften, das osmanische Reich zu stützen, nicht zuletzt da es ihren Funktionsträgern sonst an den Kragen ging. Mit dem Unabhängigkeitskampf konnte der Patriarch also wenig anfangen und predigte vehement dagegen. Er war für die Aufrechterhaltung der Ordnung unter den Othodoxen des Reiches zuständig, und wenn er versagte, stand es schlecht um ihn. Das heißt nicht, dass einzelne Priester oder Klöster in Griechenland den Kampf nicht unterstützten, aber sie taten das gegen die Weisung der Amtskirche.

Und noch etwas: die tyrannischen oder auch "gerechten" lokalen und regionalen Potentaten des Reiches waren keineswegs ausschließlich türkische Muslime. Auch Angehörige anderer Ethnien und Religionen konnten in diese Funktionen aufsteigen. Es konnte also durchaus vorkommen, dass ein orthodoxer Grieche andere orthodoxe Griechen (qua Amtsmissbrauch) unterdrückte. Einige der höchstrangingen und loyalen Berater des Sultans waren Griechen, die sogenannten Phanarioten (= aus dem gleichnamigen Stadtbezirk Konstantinopels stammende Griechen). Teils hochgebildete Männer, die auch in andere Teile des Reiches entsandt wurden, um dort zu herrschen.

Wenn sich die Kirche also heute noch auf ihre heroische Rolle während der "brutalen Besatzungszeit" beruft, entspricht das meistenteils einer erfundenen Tradition, die sich natürlich in den Köpfen der heutigen Griechen, auch dank Schulunterricht festgesetzt hat. Als der neue griechische Staat gegründet wurde, ging er mit der Kirche eine Allianz ein, die beide Institutionen gegenseitig stützen sollte und in der diese Mythen ganz selbstverständlich perpetuiert wurden.

Grüße,
Rainer
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#12
Carmen hatte in einem ihrer ersten Beiträge erwähnt, dass gängige Meinung ist, dass "die Kirche" "die Griechen" während der Türkenherrschaft gegen die Besatzer verteidigt bzw. es ihnen ermöglicht hat, überhaupt das "Griechentum" aufrecht zu erhalten und dass deshalb bis heute die Mehrheit der Griechen Respekt vor der Institution hat und eine Art ewige Dankesschuld abtrage.

Dazu ließe sich folgendes sagen:

Im Osmanischen Reich gab es verschiedene "millets", also Verwaltungseinheiten basierend auf der Religionszugehörigkeit. Der größte war natürlich der islamische Millet, und ein sehr bedeutender war der "Millet-i-Rom", der orthodoxe, der alle orthodoxen Christen (gemeint ist "Ostrom" also Konstantinopel) umfasste. Dem stand der Patriarch in Konstantinopel vor. Im Osmanischen Reich herrschte generell Religionsfreiheit, auch wenn die Nichtmosleme Bürger zweiter Klasse waren. Innerhalb des Millets gab es eine begrenzete Autonomie, so wurden zum Beispiel Rechtsstreitigkeiten zwischen orthodoxen Christen, sofern sie gewisse mindere Delikte betrafen, innerhalb des Millets geregelt. Die konkreten Lebensbedingungen für die orthodoxen Christen (aber auch alle anderen Untertanen des Sultans) hingen stark davon ab, wie die lokalen Potentaten herrschten, den Konstantinopel war für die meisten weit weg und ein tyrannischer Statthalter konnte den Angehörigen eines bestimmten Millets (oder allen) das Leben zur Hölle machen. Ein "gerecht" herrschender konnte dagegen für sehr gute Lebensbedingungen sorgen. Soviel zum Thema "Unterdrückung".

Interessant ist aber vor allem folgendes: Die Angehörigen des Millet-i-Rom waren keineswegs ausschließlich "Griechen", sondern auch jede Menge Albaner, Vlachi, Türken, u.v.a.. Die Religion und nicht die Ethnie bestimmte die Zugehörigkeit. Ebenso gab es Menschen, die sich als "Griechen" fühlten, aber anderen Glaubens waren. Die Zugehörigkeit zum "Griechentum" war ebenfalls durch Sitten und Gebräuche, durch Folklore und die Überlieferung von Geschichten, Sagen, Märchen etc. bestimmt. Die Kirche hatte einen gewissen Einfluss, u.a. auf die Aufrechterhaltung dieser Bräuche, aber war längst nicht der einzige Faktor in der Erhaltung einer "griechischen" Tradition. Als im späten 18. Jahrhundert die (im westlichen Ausland lebenden) ersten "griechischen" Denker daran gingen, ein griechisches Nationalbewußtsein zu begründen, fiel es ihnen sehr schwer zu bestimmen, wer den eigentlich "Grieche" sei. Die einen stellten die Orthodoxie in den Vordergrund, die anderen die Ethnie (die sehr viel schwieriger zu bestimmen war).

Was ebenfalls wichtig war: der Patriarch und die orthodoxe Amtskirche war stets ein getreuer Vasall des Sultans und bemühte sich nach Kräften, das osmanische Reich zu stützen, nicht zuletzt da es ihren Funktionsträgern sonst an den Kragen ging. Mit dem Unabhängigkeitskampf konnte der Patriarch also wenig anfangen und predigte vehement dagegen. Er war für die Aufrechterhaltung der Ordnung unter den Othodoxen des Reiches zuständig, und wenn er versagte, stand es schlecht um ihn. Das heißt nicht, dass einzelne Priester oder Klöster in Griechenland den Kampf nicht unterstützten, aber sie taten das gegen die Weisung der Amtskirche.

Und noch etwas: die tyrannischen oder auch "gerechten" lokalen und regionalen Potentaten des Reiches waren keineswegs ausschließlich türkische Muslime. Auch Angehörige anderer Ethnien und Religionen konnten in diese Funktionen aufsteigen. Es konnte also durchaus vorkommen, dass ein orthodoxer Grieche andere orthodoxe Griechen (qua Amtsmissbrauch) unterdrückte. Einige der höchstrangingen und loyalen Berater des Sultans waren Griechen, die sogenannten Phanarioten (= aus dem gleichnamigen Stadtbezirk Konstantinopels stammende Griechen). Teils hochgebildete Männer, die auch in andere Teile des Reiches entsandt wurden, um dort zu herrschen.

Wenn sich die Kirche also heute noch auf ihre heroische Rolle während der "brutalen Besatzungszeit" beruft, entspricht das meistenteils einer erfundenen Tradition, die sich natürlich in den Köpfen der heutigen Griechen, auch dank Schulunterricht festgesetzt hat. Als der neue griechische Staat gegründet wurde, ging er mit der Kirche eine Allianz ein, die beide Institutionen gegenseitig stützen sollte und in der diese Mythen ganz selbstverständlich perpetuiert wurden.

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Rainer
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Christodoulos gibt sich selbstbewusst - von Carmen - 22.02.2005, 08:57:25
Christodoulos gibt sich selbstbewusst - von awg - 22.02.2005, 09:58:03
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